Die lange Nacht der Demokratie in Esslingen: Der Film: „Fragmente aus der Provinz“ und eine überraschend verlaufende Podiumsdiskussion

Von Stephan Köthe

Um ein Haar hätte ich ihn am 02.10.2024 verpasst, den Film „Fragmente aus der Provinz“ von Martin Weinhart. Die Vorstellung war ausgebucht und ich hatte Glück, dass eine Karte zurückgegeben wurde. Vor der Vorstellung las ich noch schnell im Veranstaltungsflyer, um was es eigentlich ging:

Da heißt es doch tatsächlich: „FRAGMENTE AUS DER PROVINZ begleitet die engagierte Bürger*innenschaft ebenso wie Hans-Georg Maaßen, der dort 2021 als CDU-Kandidat Wahlkampf macht, und andere skandalträchtige Rechtsextremisten.“

Ich fragte an der Kasse, ob hier Hans-Georg Maaßen ernsthaft als skandalträchtiger Rechtsextremist bezeichnet wird. Die freundliche Frau an der Kasse bejahte. Ich hakte nach: Was sagt das über das Bundesamt für Verfassungsschutz aus, wenn die Behörde jahrelang von einem skandalträchtigen Rechtsextremisten geleitet wurde? Diese Frage sollte ich lieber direkt an Herrn Weinhart stellen, der sich am Nebentisch im Gespräch befand. Nach einer kurzen Wartezeit am Tisch von Herrn Weinhart, stellte ich mich ihm als Stadtrat der AfD in Esslingen vor und fragte ihn, ob er tatsächlich Hans-Georg Maaßen für einen skandalträchtigen Rechtsextremisten halte. Wenn ja, dann würde ich lieber meine Nerven schonen und meine Platzkarte zurückgeben. Zu meiner Überraschung begrüßte mich Herr Weinhart freundlich und negierte meine Frage. Er sei selbst mit der Art der Bewerbung nicht glücklich, sie stamme auch nicht von ihm. Er ermutigte mich, den Film anzuschauen.

Und so saß ich in Reihe 5 Platz 9 (witzigerweise neben dem Bruder von Herrn Weinhart):

Und ich habe es nicht bereut!
Der Film „Fragmente aus der Provinz“ zeigt verschiedene Lebensentwürfe von Bürgern aus Kloster Veßra, einer Kleinstadt in Thüringen, und Umgebung, aufgeteilt in einzelne Kapitel. Martin Weinhart frägt, Martin Weinhart hört zu, Martin Weinhart dokumentiert. Er selbst sagt in der anschließenden Podiumsdiskussion, dass er sich auf eine Abenteuerreise eingelassen hat und nicht mit einem fertigen Drehbuch angereist ist. Das Ergebnis: ein Zeitdokument, ungeschönt, sauber geschnitten, wie eine in Kapiteln organisierte Zusammenstellung sehr langer Tik-Tok Videos. Framing? Fehlanzeige! Martin Weinhart begegnet allen Protagonisten des Films mit Respekt und gleichzeitig mit gebührender journalistischer Distanz.
Die Dokumentation zeigt ein vielschichtiges Bild einer komplexen Gesellschaft. Insbesondere die Person Tommy Frenck, ein bekennender Nationalsozialist, der einen Online-Handel betreibt und in seiner Gaststätte „Führerschnitzel“ verkauft und als Kommunalpolitiker aktiv ist, wirkt vom Filminhalt verstörend. Die Dokumentation gibt Einblicke in den Alltag von Tommy Frenck, aber vieles bleibt unklar. Gerne würde man fragen, wie man mit heutigem Wissen, einem Massenmörder des 20. Jahrhunderts huldigen kann. Oder wie man die Vorzüge einer freien Gesellschaft genießend, sich ein totalitäres System wünschen kann.
Weitere Kapitel zeigen Uwe Schneider (ein Gastronom aus Veßra), Hans-Georg Maaßen (im Landtagswahlkampf), Christopher Other (CDU-Kreisvorsitzender), Thomas Jakob (Sozialarbeiter), Adelino Massuvira João (EKD-Beauftragter Südthüringen) – die Liste ist nicht abschließend. Einblicke in eine vielschichtige und vitale Zivilgesellschaft. Gerade weil es Martin Weinhart unterlässt, seine persönlichen Ansichten einfließend zu lassen (auch nicht subtil), kann man sich als Zuschauer entspannt sein eigenes Bild machen – ganz ohne interne Aufwände fürs Entframen. Martin Weinhart rechnet mit dem mündigen Bürger – was für eine Wertschätzung! Ich habe mich als Zuschauer ernst genommen und gleichzeitig herausgefordert gefühlt, die Eindrücke zu bewerten und einzuordnen.
Was mich als AfD-Stadtrat natürlich am meisten interessiert hat: wie würde die AfD dargestellt werden? Zu meiner Überraschung: gar nicht. Nur ein oder zwei mal wird die AfD nebensächlich erwähnt, beim Kommunalwahlergebnis, als Tommy Frencks Gruppierung 3 Sitze und die AfD 5 Sitze erringt. Ich denke mir: immerhin – die AfD wird zurecht als politische Konkurrenz zu Tommy Frenck erwähnt.

Richtig spannend wurde es dann bei der anschließenden Podiumsdiskussion. Wie würde das Esslinger Publikum reagieren? Wie würde sich Herr Felix Steinbrenner (Landeszentrale für politische Bildung) äußern? Und welche Rolle würde der Moderator Bernhard Wiesmaier (VHS Esslingen) einnehmen?
Nach einem kurzen allgemeinen Austausch kam es dann: Bernhard Wiesmaier schlug die Brücke zwischen den rechtsradikalen Umtrieben um Tommy Frenck und der AfD. Seine Überleitung mündete in die Frage an Herrn Steinbrenner, wie man erklären kann, dass 30% der Jugendlichen die AfD wählen würden. Eine spannende Frage – nur hatte sie mit dem Film nichts zu tun. Weder die AfD, noch Jugendliche insbesondere (bis auf einen jungen Koch) waren Inhalt des Films. Herr Steinmeier hatte sichtlich Mühe die Frage so zu beantworten, dass die Neutralitätspflicht der Landeszentrale für politische Bildung nicht verletzt werden würde.
Das war dann der Zeitpunkt, an dem ich mich zur Wortmeldung entschloss (Wortmeldungen waren ausdrücklich erwünscht). Als ich aufgerufen wurde, stellte ich mich als Stadtrat der AfD vor, und würdigte den Film in wenigen Sätzen in obenstehendem Sinne. Dann sagte ich, dass durch Herrn Wiesmaier versucht wird, Martin Weingarts Film zu instrumentalisieren und gegen die AfD zu verwenden. Ich sagte, wir hatten auf deutschem Boden 2 Diktaturen, den Nationalsozialismus und den Internationalsozialismus (der DDR). Die AfD allerdings, versteht sich als freiheitliche Partei, die sich totalitären Entwicklungen entgegenstellt. „Freiheit statt Sozialismus“. Dann wollte ich die Frage beantworten, warum Jugendliche AfD wählen, was mir leider nicht mehr möglich war, denn mehrere aufgebrachte Anwesende schrien so laut, dass man sein eigenes Wort nicht mehr hören konnte. Die Moderation sah darin keinen Anlass, die Schreihälse zur Ordnung zu rufen, sondern entzog mir das Wort. Ich schwieg und dachte mir, was ist das für eine wundersame Nacht der Demokratie!

Das war aber noch nicht das Ende. Jetzt wurde der Regisseur Martin Weinhart ins Visier genommen. Die Vorwürfe lauteten unter anderem:
Der Film gibt Nazis eine Plattform.
Der Film ist zu unkritisch.
Hans Georg Maßen würde zu viel Raum bekommen, obwohl er doch die Hetzjagden geleugnet hat (tatsächlich waren die Hetzjagden frei erfunden).

Ich dachte mir: Einige Anwesende sind bei der Verkostung von ungeframten Inhalten, sprich mit journalistischer Qualitätsarbeit, wie es Martin Weinhart gelungen ist, sichtlich überfordert. Und: Wer die Wahrheit sagt, braucht ein schnelles Pferd.

Bonus: Veröffentlichung von Dok.fest München 2024:
https://www.facebook.com/reel/790117509760478

Reporterin:  Was sollen die Zuschauer aus deinem Film mitnehmen?
Martin Weinhart: Also am liebsten wäre mir, wenn sich die Zuschauer ein bisschen enttriggern würden und sich nicht von allen Provokationen auf die Palme bringen ließen. Denn man spielt das Spiel mit der Extremen -…- oder der Rechtsextremen, wenn man immer wieder auf ihre Provokationen hereinfällt. Ein wenig Distanz, ein wenig zurücktreten, sich klar positionieren, aber durchaus mal gelassen und freundlich. Das ist mir besonders wichtig. Nicht sich der Rhetorik annähern, dieser Ausschluss- und Ausgrenzungsrhetorik. Das würde ich mir wünschen.
Reporterin: Dankeschön.
Martin Weinhart: Ich danke!

Ein Satz von Martin Weinhart bleibt mir in Erinnerung: „sich ein eigenes Bild machen, ist die beste Medizin gegen Ängste“.
Ich dachte mir: wie Recht er hat – und auf der anderen Seite: dass sich die Menschen ein eigenes Bild machen, ist die größte Angst der Regierenden.

Nach der Veranstaltung kam tatsächlich ein Teilnehmer auf mich zu und suchte das Gespräch. Ich habe mich gefreut. Ein Anfang. Dialog ist das Kennzeichen einer pluralistischen Gesellschaft.

Auf dem Nachhauseweg las ich den gerade veröffentlichten Kommentar der Bild, dort heißt es unter anderem: „nachdem der Iran 181 Raketen auf Israel gefeuert hatte, versammelt sich der Judenhasser-Mob auf den Straßen der Hauptstadt und frohlockt „Yallah, Yallah, Intifada“, ein arabischer Aufruf zu antisemitischen Pogromen.“

Wie groß ist doch der Unterschied zwischen Anspruch und Wirklichkeit – in Berlin und in Esslingen.

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