lesart: Dmitrij Kapitelmans neuestes Buch: „Russische Spezialitäten“ und wie er mir zeigte, dass er Sohn seiner Mutter ist
Ein Kommentar von Stephan Köthe
Zugegeben: hoch waren meine Erwartungen, als ich am 04.11.2025 um 19:30 Uhr im Kutschersaal Platz nahm. Dmitrij Kapitelman kommt nach Esslingen und stellt sein neuestes Buch „Russische Spezialitäten“ vor. Ich bin gespannt! Wie wird er den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine literarisch verarbeiten? Welche Schlüsse würde er ziehen? Und was schreibt er meinen Esslingern ins Stammbuch? Hoch ist auch der Andrang: Die Veranstaltung ist ausverkauft – in (ausnahms-) weiser Voraussicht hatte ich eine Karte reserviert.
Eine ostukrainische Familie kämpft ums Überleben und arrangiert sich mit den Gegebenheiten. Die Familie spricht russisch, die Mutter schaut russisches Fernsehen – und glaubt, was sie sieht. Der Sohn ist besser informiert und sucht das Gespräch, es bleibt weitgehend ohne die gewünschte Wirkung. Die Charaktere im Buch werden detailliert und liebevoll beschrieben. Jeder lebt auf seine Art für sich, ein Stück weit in seiner eigenen Welt, abgekapselt, arrangiert. Natürlicherweise gibt es Schnittstellen, es kommt zu Dialogen, aber sie erscheinen unproduktiv, statisch, ja erstarrt, beispielsweise, wenn ein Kunde im Laden seit Jahren Tag für Tag dieselben Aussagen zum Preis des Eises macht, den er für viel zu hoch hält und den er dann doch täglich und in voller Höhe bezahlt. Nicht nur einmal kommt das Publikum ins Schmunzeln, Dmitrij Kapitelman liest so lebendig, dass man sich mit hineingenommen fühlt. Insbesondere die Beziehung des Sohnes zu seiner Mutter bleibt spannend. Das gemeinsame Torteessen könnte ein Raum des Dialogs und der kleinen Schritte sein, ein Raum der Annäherung an eine objektivere, gemeinsame Weltsicht. Sein Roman endet nicht ohne Hoffnung: als im russischen Fernsehen wieder einmal die Befreiung eines ukrainischen Dorfes gefeiert wird, fragt die Mutter: „Befreiung? Von was eigentlich?“.
Ich denke mir: Wow, das ist Gesellschaftskritik vom Feinsten! So viele Steilvorlagen, um elementare Fragen des Menschseins zu stellen! Zum Beispiel zu den statischen Dialogen: Leben wir wirklich oder funktionieren wir nur? Sind wir am Ende nur NPCs (Non-Playable Characters)? Zur Mutter: Wie kann Propaganda enttarnt und überwunden werden? Die Frage der Mutter: „Befreiung? Von was eigentlich?“ Die russische Propaganda hätte geantwortet: „Von den Nazis in der Ukraine!“ – analog der DDR-Propaganda: „Von den Nazis im Westen“! Analog…?! Zum Sohn: hätte es nicht Möglichkeiten für eine familiäre und gesellschaftliche Erneuerung gegeben?
Nichts dergleichen passiert. Dmitrij Kapitelman kommt auf die AfD zu sprechen. Wenn die AfD-Wähler nur wüssten, was sie da wählen würden! Welche Sozialpolitik sie bekommen würden! Es gäbe sogar migrantische AfD-Wähler, die würden dann als erstes unter eine AfD-Regierung leiden. AfD-Wähler würden ihrer eigenen Vernichtung zustimmen!
Es sind Momente wie diese, in denen ich für Sekunden meinen Ohren nicht traue. Momente, in denen ich, in einer Art Schockstarre, versuche zu begreifen, was gerade passiert. Ist das real? Wie kommt an dieser Stelle der Bezug zur AfD? Ich fühle mich an manche Ausschusssitzung erinnert, in welcher Oberbürgermeister Klopfer in ähnlich willkürlicher und unvermittelter Weise die AfD schmäht (ein Beispiel dafür, wie die politische Kultur in Esslingen unter OB Matthias Klopfer leidet) Aber so krasse Aussagen von einem Intellektuellen? Das Klatschen meiner geneigten Esslinger holt mich unmissverständlich zurück: was ich soeben gehört habe: es ist real!
Während ich weiter zu höre, überlege ich, wie ich die Inhalte des Buches auf die Situation im Kutschersaal übertragen kann. Ich nehme mir vor, nach der Veranstaltung mit Dmitrij Kapitelman zu sprechen und ihn auf ein Stück Torte einzuladen.
Gedacht, getan: Nachdem die lange Schlange der Buchkäufer, die ihr Buch signieren lassen wollten, abgearbeitet war, stelle ich mich mit Namen und Funktion: „AfD-Stadtrat im Gemeinderat Esslingen“ vor und lade Dmitrij Kapitelman auf ein Stück Kuchen ein. Dmitrij Kapitelman, vorgewarnt von einer Mitarbeiterin, dass ihn gleich ein AfD-Mann anspricht, lehnt freundlich ab. Ich versuche noch, das Angebot um ein Glas Wein, wahlweise Tee zu erweitern, leider ohne Erfolg. Traurig gehe ich nach Hause. Nicht, weil wieder einmal die AfD geschmäht wurde, sondern weil ich einen Schriftsteller mit so viel Potential kennenlernen durfte, der in so feinfühliger und liebenswerter Weise schreibt, dessen literarische Beschreibung der Realität so viele Möglichkeiten für eine lebendige Diskussion eröffnet und der dann kurz vor dem Ziel zu völlig anderen Schlussfolgerungen kommt.
Dmitrij Kapitelmans neuester Roman hat autobiografische Züge, die Mutter ist seine Mutter, er ist der Protagonist. So treffend die Situation der Mutter beschrieben wird, so weit ist Dmitrij Kapitelman von der Erkenntnis seiner eigenen Situation entfernt. Aber auch mein Kommentar endet nicht ohne Hoffnung: Der größte jüdische Geistesgelehrte hat gesagt: „Die Wahrheit wird euch frei machen“. Wie genau das passieren kann, das hat er auch gesagt. Das macht Hoffnung, zumindest für die, welche die Wahrheit suchen.
Bonus:
Auch vom 04.11.2025: Michael Klonovsky schreibt auf X: Ich staune immer wieder über den Mut von Menschen, sich fast allein, einzig unterstützt von der Regierung, (fast) allen Parteien, Ministerien, Behörden, Unternehmen, Vereinen, Stiftungen, Gewerkschaften, Kirchen, Medien, Kultureinrichtungen, „N“GOs, den „Omas gegen Rechts“, Ruprecht Polenz und der Antifa, gegen einen übermächtigen Feind zu stellen.
Mein Kommentar: Wer weiß, wenn diese Zeichnung im besten Deutschland, das es jemals gegeben hat (Steinmeier am 3. Oktober 2020) den Geflügelten Bleistift in Gold bekommt, vielleicht spekuliert Dmitrij Kapitelman mit seinem neuesten Roman auf den Deutschen Buchpreis? Dazu müsste er aber sein Werk noch um eindeutige Kommentare zur AfD anreichern, auf der Tonspur allein, wird es nicht reichen.
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