lesart: Joachim Zelter liest „Hoch Oben“ – eine völlig übertriebene, erschreckend realistische Satire
Ein Kommentar von Stephan Köthe
Der in Tübingen lebende Schriftsteller Joachim Zelter liest aus seinem neuesten Buch „Ganz Oben“. Der Kronensaal in der Kreissparkasse ist gut gefüllt, deutlich mehr als 100 Esslingerinnen und Esslinger sind gekommen. Die Moderation hatte Alexander Maier, der mit wenigen, gut vorbereiten Fragen, dem Autor Raum zur Entfaltung gab.
Joachim Zelter nimmt uns mit in die Erlebnisse des fiktiven englischstämmigen Reporters Jeremy Ash, den es schicksalhaft in eine schwäbische Stadt verschlägt. Seine Erfahrungen sind verstörend, gerade für ihn, der sie als unfreiwillig Neigschmeckter mit anderen Augen wahrnimmt, als diejenigen, die dort schon länger leben. Ein omnipotenter, omnipräsenter Bürgermeister, Thorwald Burger, nimmt nicht nur die Stadt in seinen Bann, auch der ursprünglich verwirrt ungläubige und distanzierte Reporter Ash wird zunehmend Teil eines kollektiven Narzissmus, welche sich im Bürgermeister verwirklicht sieht. Dessen tatsächliche oder scheinbare Kompetenz, seine tatsächlichen oder scheinbaren Erfolge, seine medialen Wirkungen, tausendfach verstärkt von seinen Followern, er, der Bürgermeister, Thorwald Burger, er ist es: die Lösung aller Probleme, die kollektive Zukunft! Hat er Erfolg, haben wir alle Erfolg, ist er im Lead, dann wird alles gut! Ja, sicher, es gibt auch Schwächen, Kompetenzüberschreitungen, ja Rechtsbrüche – aber, was ist das gegenüber seinen Erfolgen! Wer ist schon perfekt?
Joachim Zelter schreibt und liest ergreifend. Man fühlt nicht nur mit Jeremy Ash, man spürt förmlich am eigenen Leib, welche bizarre Wirkung der Bürgermeister auslöst, eine Mischung aus Verabscheuung und Bewunderung, aus Opposition, sich arrangierendem Mitläufertum und ergebenen Followern – mit einer klaren Tendenz des Absorbiert-Werdens von einer, aus den unterschiedlichsten Gründen, gleichgeschalteten Stadtgesellschaft, welche ihre Bestimmung im Bürgermeister gefunden hat. Und Thorwald Burgers Bestimmung ist es, dieser Stadt vorzustehen – daran kann und darf(!) es keinen Zweifel geben!
Joachim Zelter beendet seine Lesung ohne zu verraten, wie es weiter geht. Ich werde jäh aus einer Fiktion gerissen und stelle mit Schrecken fest, dass es sich nicht so anfühlt, als wäre man von einem bösen Traum erwacht! Es fehlt die Wahrnehmung, dass es nur ein Traum war! Zu sehr ist die Realität, wie ich sie wahrnehme, mit Zelters Fiktion verwoben. Wie weit sind wir im Abstufungsprozess, im sich Gewöhnen an das Unaussprechliche, im Akzeptieren oder gar Herbeisehen des Einen? Ich kaufe das Buch, ich will wissen, welche Lösung Joachim Zelter aufzeigt. Gibt es überhaupt eine Lösung?
Ich frage mich: in Zeiten katastrophaler politischer Fehlentwicklungen, zunehmenden Ungerechtigkeiten, bereits vorhandenen und aufkommenden Verteilungskämpfen, Kriegsgefahr durch Angriffskriege von Diktatoren und durch Kriegstreiberei von Versagern – wer oder was wird uns vor einem Thorwald Bundesburger oder gar einem Thorwald Euburger bewahren? Der mündige Bürger? Die aufgeklärte Zivilgesellschaft? Die sogenannte 4. Gewalt? Nach dem ersten Teil, den ich von „Hoch Oben“ hören durfte, kann diese Frage eindeutig beantwortet werden.
Joachim Zelters neustes Buch zeigt das Dilemma praktizierender Satiriker unserer Zeit: die politische Realität ist so grotesk, so das Vorstellungsvermögen übersteigend, dass Satiriker vor die Wahl gestellt werden: Aufgeben, Anpassen – oder heldenhaftes und wahrscheinlich aussichtsloses Aufbäumen? Joachim Zelters bleibt seinen Überzeugungen treu und wählt das Aufbäumen. Mit diesem Buch geht er „All-In“. Es ist Joachim Zelters ganz persönliches „Wurm gegen Rennpferd“ (eine zentrale Metapher des Buches). Es ist das Wirken eines Wurmes, so unbedeutend, so aussichtslos, so irrelevant, dass es zu einer Ermutigung, zu einem Vorbild, zu einem Trost für die verstreuten Würmer in unserem Land wird, die es wagen, Rennpferde in Frage zu stellen, ihnen zu widersprechen und eine Alternative sein zu wollen.
Joachim Zelter: Hoch Oben, 22 Euro, erhältlich in jeder gut sortierten Buchhandlung und online bei „Die Zeitgenossen“: https://die-zeitgenossen.buchhandlung.de/shop/article/55759266/joachim_zelter_hoch_oben.html
P.S.: Just am selben Abend erscheint ein Artikel in der Esslinger Zeitung „Videoüberwachung bis Alkoholverkaufsverbot – Palmer und Co. machen Vorschläge“ – die Realität bleibt eine ernsthafte Herausforderung für Satiriker!
Mein persönlicher Lösungsansatz: Das Recht muss Deutschlands Supermann sein – nicht der Mensch. Menschliche Macht muss auf ein Minimum begrenzt werden, Gewaltenteilung, horizontal in Form von Föderalismus, vertikal in Form von Legislative, Judikative und Exekutive, eine freiheitliche demokratische Grundordnung, welche die Demokratie limitiert, damit nicht 50%+ einer Minderheit ihrer Grundrechte beraubt, ein zentraler Grundgesetzartikel §1 Absatz 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, der nur dann tatsächlich Wirkung entfaltet, wenn wir mehrheitlich der Meinung sind, dass wir kein Ergebnis von zufälliger Evolution sind, bei der sich der Stärke durchsetzt, sondern davon überzeugt sind, dass es einen Gott gibt – und das bist nicht Du.
Es ist unsere gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die freiheitliche demokratische Grundordnung in Deutschland aufrechtzuerhalten und wo sie bereits eingerissen wurde, wiederherzustellen und neu zu schärfen. Jeder mit seiner Stimme, an seinem Platz, mit seinen Möglichkeiten. Und doch bleibt es eine Notstandsordnung, weil der Mensch der alte bleibt. Der neue Mensch kommt nicht durch einen Thorwald Burger, nicht durch eine sozialistische Erziehung, auch nicht durch bessere Lebensumstände, der neue Mensch kommt durch den einen, der gesagt hat: „Ich aber bin ein Wurm und kein Mensch, ein Spott der Leute und verachtet vom Volk.“ (Link). Von diesem Wurm wird an anderer Stelle gesagt: „Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt.“ (Link). Wer diesen Frieden hat, kann nicht nur Missstände besser ertragen – er ist kein Opium fürs Volk – im Gegenteil: dieser Friede bringt Wachheit, schärft die Sinne und bringt den Heldenmut, auch in aussichtslosen Situationen das Richtige zu tun.
Diesen Frieden wünsche ich Dir!
